Deutsche entschuldigen sich 47-mal am Tag – Psychologe erklärt, was das über uns verrät

Warum wir uns ständig entschuldigen – und was das über unser Selbstwertgefühl verrät

„Entschuldigung!“ – „Sorry!“ – „Tut mir leid!“ Diese Sätze kommen dir bekannt vor? Viele Menschen entschuldigen sich häufig, sei es im vollen Bus, obwohl sie angerempelt werden, oder beim Stellen einer berechtigten Frage. Dieses Verhalten ist weit verbreitet und geht über bloße Höflichkeit hinaus.

Übermäßiges Entschuldigen ist nicht nur ein soziales Muster, es offenbart auch Einblicke in unser Selbstwertgefühl, unsere Erziehung und kulturelle Prägung. Höchste Zeit, dieses Phänomen sowohl psychologisch als auch gesellschaftlich zu beleuchten.

Das Entschuldigungs-Phänomen: Mehr als nur Höflichkeit

Eine Entschuldigung ist grundsätzlich eine wertvolle soziale Handlung. Der Psychiater Dr. Aaron Lazare bezeichnete sie als bedeutendes Werkzeug zur Versöhnung und Vertrauensbildung. Wenn Entschuldigungen jedoch zu einer reflexhaften Gewohnheit werden – unabhängig von tatsächlicher Verantwortung – spricht man von Über-Entschuldigung.

Psychologische Studien zeigen Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Die Psychologin Karina Schumann fand heraus, dass Frauen nicht zwangsläufig unterwürfiger, sondern vielmehr empfänglicher für Situationen sind, die ihrer Meinung nach eine Entschuldigung erfordern.

Die verschiedenen Typen der Über-Entschuldiger

  • Raum-Entschuldiger: Entschuldigen sich für ihre bloße Anwesenheit – „Sorry, dass ich hier stehe.“
  • Präventiv-Entschuldiger: Bitten vorsorglich um Verzeihung – „Entschuldigung, aber könnte ich mal…?“
  • Stellvertreter-Entschuldiger: Übernehmen Verantwortung für Dinge, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen – „Sorry für das Wetter!“
  • Reflex-Entschuldiger: Reagieren automatisch mit einer Entschuldigung auf völlig normale Situationen – wie Niesen oder Husten.

Diese Unterscheidung mag zwar nicht wissenschaftlich fundiert sein, veranschaulicht aber gängige Verhaltensmuster eindrucksvoll.

Was die Wissenschaft über übermäßiges Entschuldigen sagt

Dr. Harriet Lerner, Psychologin und Autorin, erklärt, dass ständiges Entschuldigen häufig mit niedrigem Selbstwertgefühl einhergeht, aber auch als Strategie zur Konfliktvermeidung eingesetzt wird – bewusst oder unbewusst.

Eine Studie von Alison Wood Brooks an der Harvard Business School fand heraus, dass übermäßiges Entschuldigen die wahrgenommene Kompetenz einer Person senken kann, was insbesondere im beruflichen Kontext Nachteile mit sich bringen kann – insbesondere für Frauen, die häufiger zu diesem Verhalten neigen.

Die Psychologie hinter dem Entschuldigungsverhalten

Kindheitsprägung: Wer als Kind häufig kritisiert wird oder sich rechtfertigen muss, entwickelt oft ein entschuldigendes Kommunikationsmuster als Selbstschutzmechanismus.

Perfektionismus: Perfektionistisch veranlagte Menschen entschuldigen sich präventiv aus Angst, Erwartungen nicht gerecht zu werden.

Angst vor Ablehnung: Evolutionspsychologisch betrachtet, spiegelt das Entschuldigen den Drang nach Gruppenzugehörigkeit wider – ein Verhalten, das einst zum Überleben beitrug.

Der kulturelle Faktor: Warum Deutsche besonders betroffen sind

Deutschland zählt laut Kulturforscher Dr. Geert Hofstede zu den Ländern mit hoher Unsicherheitsvermeidung. Regeln und Ordnung werden bevorzugt, Unsicherheiten und Konflikte hingegen gemieden. Das beeinflusst Kommunikationsstile – auch die Neigung, sich zu entschuldigen.

Eine Entschuldigung in der deutschen Sprache ist oft emotional aufgeladen. „Es tut mir leid“ trägt mehr Gewicht als ein beiläufiges „Excuse me“ und wird manchmal verwendet, um Wünsche zu äußern.

Nord versus Süd – ein moderner Mythos?

Es heißt oft, Norddeutsche würden sich häufiger entschuldigen als Süddeutsche. Wissenschaftlich belegt ist das allerdings nicht – diese Annahmen basieren meist auf persönlichen Beobachtungen und populären Vorurteilen. Dennoch lohnt es sich, auf unterschiedliche Kommunikationsstile innerhalb Deutschlands zu achten.

Die versteckten Kosten des Über-Entschuldigens

Psychologin Dr. Susan David von der Harvard Medical School hebt hervor, dass ständige Entschuldigungen die eigene Selbstwahrnehmung unbewusst beeinflussen. Wiederholte Muster wie ungerechtfertigte Entschuldigungen führen dazu, dass das Gehirn diese Haltung als „normal“ abspeichert, was das Gefühl von Minderwertigkeit und Unsicherheit verstärkt.

Berufliche Nachteile

Unnötige Entschuldigungen können im Arbeitsumfeld problematisch sein. Studien zeigen, dass Betroffene als weniger durchsetzungsstark und kompetent wahrgenommen werden, was ihre Karrierechancen negativ beeinflussen kann. Frauen sind hiervon überdurchschnittlich oft betroffen.

Auswirkungen auf Beziehungen

In Beziehungen – ob privat oder beruflich – kann ständiges Entschuldigen Irritationen hervorrufen. Manche empfinden es als übertrieben, andere sogar als manipulativ, selbst wenn das nicht beabsichtigt ist.

Wann Entschuldigungen sinnvoll sind – und wann nicht

Psychologe Prof. Roy Lewicki unterscheidet zwischen funktionalen und dysfunktionalen Entschuldigungen. Diese Unterscheidung hilft, die eigene Kommunikation bewusster zu gestalten.

Sinnvolle Entschuldigungen:

  • Bei einem tatsächlichen Fehler
  • Wenn du jemanden verletzt hast
  • Wenn du eine Abmachung nicht einhalten konntest
  • Wenn du persönliche Grenzen überschritten hast

Unnötige Entschuldigungen:

  • Für deine Meinung oder Gefühle
  • Für Fehler anderer
  • Für natürliche Körperreaktionen
  • Dafür, dass du um Hilfe bittest
  • Dafür, dass du Raum einnimmst

Der Weg aus der Entschuldigungs-Falle

Psychotherapeutin Beverly Engel schlägt einen praktischen, dreistufigen Weg vor, um übermäßiges Entschuldigen zu reduzieren:

1. Bewusstsein entwickeln

Notiere eine Woche lang jede deiner Entschuldigungen. War sie wirklich notwendig? Diese Übung macht Denkmuster sichtbar und kann erste Veränderungen anstoßen.

2. Sprachliche Alternativen nutzen

Wähle deine Sprache bewusst: Statt „Sorry, dass ich zu spät bin“ sage „Danke, dass du gewartet hast.“ Das signalisiert Wertschätzung ohne Schuldgefühle.

3. Selbstwertgefühl stärken

Kognitive Verhaltenstherapie kann helfen, alte Glaubenssätze zu hinterfragen. Experten wie Dr. David Burns empfehlen, automatische Gedanken wie „Ich darf keine Fehler machen“ bewusst zu prüfen und neu zu bewerten.

Praktische Übungen für den Alltag

Mit kleinen Übungen kannst du dein Verhalten gezielt beeinflussen und den Kreislauf des Entschuldigens durchbrechen.

Die 5-Sekunden-Regel: Bevor du dich entschuldigst, halte inne und frage dich: „Warum genau will ich mich gerade entschuldigen?“

Der Dankbarkeits-Tausch: Ersetze Entschuldigungen durch Danksagungen – das stärkt nicht nur dein Selbstbild, sondern auch deine Beziehungen.

Selbstmitgefühl: Frage dich: „Würde ich von meinem besten Freund erwarten, dass er sich in dieser Situation entschuldigt?“ Falls nicht, solltest du es auch nicht tun.

Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist

Manchmal deutet übermäßiges Entschuldigen auf tieferliegende psychische Prozesse wie Angsterkrankungen hin. Psychologin Dr. Ellen Hendriksen empfiehlt therapeutische Unterstützung, wenn:

  • Du dich häufig für Gedanken und Gefühle entschuldigst
  • Entschuldigungen mit Angst und Nervosität verbunden sind
  • Dein Verhalten dein Berufs- oder Privatleben einschränkt
  • Du chronisch das Gefühl hast, „nicht gut genug“ zu sein

In solchen Fällen kann eine Therapie nachhaltige Veränderung bewirken und das Selbstwertgefühl langfristig stabilisieren.

Fazit: Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du da bist

Jeder hat das Recht, Raum einzunehmen – sowohl wörtlich als auch metaphorisch. Fragen zu stellen, um Hilfe zu bitten oder Fehler zu machen, sind natürliche Teile des Lebens. Nicht jede Situation verlangt eine Entschuldigung, und das zu erkennen, zeigt innere Stärke.

Echte Entschuldigungen bleiben wichtig für zwischenmenschliche Beziehungen. Ebenso bedeutsam ist es, unnötige Entschuldigungen loszulassen und sich selbst mit mehr Selbstwert und Mitgefühl zu begegnen.

Und sollte dir der Impuls kommen, dich fürs Lesen dieses Artikels zu entschuldigen – lass es. Du hast dir damit etwas Gutes getan.

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