Du entschuldigst dich sogar fürs Atmen? Das macht es mit deinem Selbstwert

Warum du aufhören solltest, dich ständig zu entschuldigen – und wann es schädlich wird

„Entschuldigung, dass ich störe…“ – „Sorry, könnte ich vielleicht…“ – „Tut mir leid, aber…“ Klingeln bei dir auch die Alarmglocken? Wenn du dich ständig entschuldigst, bist du nicht allein. Doch diese scheinbar harmlose Höflichkeit könnte mehr Schaden anrichten, als du denkst.

Im westlichen Kulturkreis, speziell in Deutschland, ist übermäßiges Entschuldigen weit verbreitet. Viele sagen sogar „Sorry“, wenn jemand anderes sie anrempelt. Der Drang zur ständigen Entschuldigung hat sich tief in unsere Sprachgewohnheiten eingebrannt. Doch warum tun wir das – und wann wird aus Höflichkeit ein Problem?

Die Psychologie hinter dem Entschuldigungs-Marathon

Forscher der University of Waterloo fanden heraus, dass Frauen sich häufiger entschuldigen als Männer. Das liegt nicht nur an größerer Höflichkeit, sondern daran, dass Frauen ihre eigenen Handlungen häufiger als entschuldigungswürdig einschätzen. Männer sehen weniger Anlässe für eine Entschuldigung, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie seltener um Verzeihung bitten.

1. Der Harmonie-Reflex

Viele Menschen möchten Konflikte vermeiden – ein tief verwurzelter, evolutionärer Mechanismus. Wer aus der Gruppe ausgeschlossen wurde, hatte früher geringere Überlebenschancen. Entschuldigungen dienen als Mittel zur sozialen Deeskalation und wirken wie ein „sozialer Defibrillator“, um potenzielle Konflikte schon im Vorfeld zu entschärfen.

2. Das Selbstwert-Paradoxon

Menschen mit geringem Selbstwertgefühl entschuldigen sich häufiger – oft aus dem Gefühl heraus, anderen zur Last zu fallen. Doch je öfter sie sich unnötig entschuldigen, desto stärker manifestiert sich das Gefühl der eigenen Unerwünschtheit. Ein Teufelskreis entsteht, den Dr. Susan David als Versuch beschreibt, die eigene Existenzberechtigung zu verhandeln.

3. Die Illusion der Kontrolle

Einige Menschen entschuldigen sich für Dinge, die sie nicht beeinflussen können, wie das Wetter oder Zugverspätungen. Dieses Verhalten entspringt dem Bedürfnis, Kontrolle in unvorhersehbaren Situationen auszuüben – der sogenannten Illusion der Kontrolle, die aus Unsicherheit heraus entsteht.

Wenn Höflichkeit toxisch wird: Die dunkle Seite des Entschuldigens

Was als höfliches Verhalten beginnt, kann negative Auswirkungen auf Selbst- und Fremdwahrnehmung haben. Hier sind die gefährlichsten Nebenwirkungen des Entschuldigungs-Overdose:

Du wirst unsichtbar

Studien zeigen, dass Menschen, die sich übermäßig entschuldigen, als weniger selbstsicher und kompetent wahrgenommen werden. Der Einstieg mit „Sorry, ich wollte nur kurz…“ lenkt den Fokus auf Unsicherheit und schwächt besonders im Beruf oder sozialen Kontext die eigene Position.

Du ziehst toxische Menschen an

Wer ständig Verantwortung für die Gefühle anderer übernimmt, signalisiert unbewusst, ausnutzbar zu sein. Psychologen wie Dr. Craig Malkin warnen, dass Narzissten und manipulative Persönlichkeiten dieses Verhalten ausnutzen könnten, wodurch Entschuldigungen zur Einladung für ungesunde Beziehungen werden.

Du verlernst, für dich einzustehen

Dauerndes Entschuldigen schwächt die Fähigkeit zur Abgrenzung. Wer sich für Emotionen oder Meinungen ständig entschuldigt, nimmt sich selbst nicht ernst und lässt das eigene Wohlergehen im Schwebemodus. Das Ergebnis ist häufig ein Teufelskreis der inneren Leere – eine Metapher, die mit „emotionaler Bulimie“ beschrieben werden kann.

Kulturelle Einflüsse: Warum Deutsche besonders betroffen sind

Internationale Studien zeigen, dass Kultur einen erheblichen Einfluss auf Entschuldigungsmuster hat. In Deutschland ist ein hoher Wert auf Gründlichkeit, Zurückhaltung und Höflichkeit traditionell verankert. Diese Eigenschaften können dazu führen, dass man sich lieber einmal zu viel entschuldigt als zu wenig. Was als tugendhaft galt, kann heute zur Selbstsabotage werden.

Die Entschuldigungs-Typen: Erkennst du dich wieder?

Kommunikationspsychologen haben verschiedene Muster übertriebenen Entschuldigens identifiziert. Hier die häufigsten Typen:

Der Raum-Entschuldiger

„Sorry, dass ich hier stehe…“ – als müsstest du dich für deinen Platz auf dieser Welt rechtfertigen.

Der Gedanken-Entschuldiger

„Entschuldigung, aber ich denke…“ – du entschuldigst dich, bevor du etwas sagst. Dadurch wirkt selbst die klügste Idee unsicher.

Der Emotions-Entschuldiger

„Sorry, dass ich so reagiere…“ – Gefühle werden als Störung empfunden, statt als menschlich akzeptiert. Du entschuldigst dich für Dinge, die du fühlen darfst.

Der Wetter-Entschuldiger

„Entschuldigung für den Regen…“ – du entschuldigst dich für Kräfte außerhalb deiner Kontrolle. Nett gemeint, aber überzogen.

Wie du den Entschuldigungs-Kreislauf durchbrichst

Die gute Nachricht: Dein Entschuldigungsmuster kannst du bewusst verändern. Hier sind bewährte Strategien:

Die 24-Stunden-Challenge

Notiere einen Tag lang jedes Mal, wenn du dich entschuldigst. Schreib auf, wann, wo und warum. Du wirst überrascht sein, wie oft du dich grundlos entschuldigst.

Der Replacement-Trick

Ersetze überflüssige Entschuldigungen durch selbstbewusste Formulierungen:

  • Statt „Sorry für die Verspätung“ → „Danke fürs Warten“
  • Statt „Entschuldigung, dass ich störe“ → „Hast du einen Moment?“
  • Statt „Sorry, nur meine Meinung“ → „Ich sehe das so“
  • Statt „Entschuldigung für die lange Mail“ → „Hier die Kernpunkte“

Die Power-Pause

Bevor du dich entschuldigst – kurz innehalten. Ist eine Entschuldigung wirklich notwendig oder übernimmst du Verantwortung, die dir nicht zusteht?

Reality-Check zur Verantwortung

Prüfe: Habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht oder versuche ich nur, einen potenziellen Konflikt im Voraus zu entschärfen?

Wann Entschuldigungen wirklich wichtig sind

Ein bewusster Umgang mit „Sorry“ bedeutet nicht, dass du nie wieder Fehler zugeben sollst. In diesen Situationen ist eine Entschuldigung angebracht:

Bei echten Fehlern

Wenn du einen Fehler gemacht hast und es jemanden beeinträchtigt hat, solltest du ehrlich dazu stehen und dich entschuldigen.

Bei Verletzungen

Hast du jemanden emotional oder körperlich verletzt? Eine Entschuldigung zeigt Empathie und den Willen zur Wiedergutmachung.

Bei Grenzüberschreitungen

Wenn du über Grenzen hinausgegangen bist, zeigt eine Entschuldigung Achtsamkeit und Respekt.

Die Entschuldigungs-Formel für echte Situationen

  • Sei konkret: Sag genau, wofür du dich entschuldigst – keine Pauschalentschuldigungen.
  • Übernimm Verantwortung: Keine Ausflüchte oder „Aber“-Erklärungen.
  • Biete Wiedergutmachung an: Frage: „Was kann ich tun, um es besser zu machen?“
  • Zeige Veränderung: Nur wer sein Verhalten ändert, meint es wirklich ernst.

Die befreiende Wahrheit

Du musst dich nicht für deine Existenz entschuldigen. Du darfst Raum einnehmen. Du darfst denken, fühlen, reden – ohne schlechtes Gewissen. Studien zeigen: Menschen, die bewusster kommunizieren und weniger automatisch „Sorry“ sagen, wirken selbstsicherer, authentischer und werden respektvoller wahrgenommen. Ihre Beziehungen profitieren davon.

Es geht nicht um Rücksichtslosigkeit, sondern um gesunde Abgrenzung. Wahre Höflichkeit entsteht nicht durch Selbstverleugnung – sondern durch Klarheit und Respekt.

Dein Leben ohne permanente Entschuldigungen

  • Du wirst im Beruf ernster genommen
  • Du setzt klarere Grenzen in Beziehungen
  • Du trittst selbstbewusster auf
  • Du wirst seltener von manipulativen Menschen vereinnahmt
  • Du schaffst Raum für deine eigenen Bedürfnisse

Mach den ersten Schritt: Beobachte eine Woche lang bewusst deine Entschuldigungen. Entscheide dann, wann du dich wirklich entschuldigen willst – und wann du stattdessen klar, freundlich und authentisch auftreten kannst. Du wirst überrascht sein, wie viel Energie und Selbstachtung du dadurch zurückgewinnst.

Weniger „Sorry“. Mehr du.

Welcher Entschuldigungs-Typ trifft am meisten auf dich zu?
Raum Entschuldiger
Gedanken Entschuldiger
Emotions Entschuldiger
Wetter Entschuldiger
Nicht Entschuldiger

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